Ausnahmesituation bei Abschiebung in Brilon: Mitarbeiterin der Ausländerbehörde bekommt ein mildes Lächeln in Verbindung mit einem milden Schmerzensgeld
Die Plätze im Warteraum vor Zimmer 109 sind alle belegt. Auf einem sitzt eine junge Frau – lange Haare, nettes Gesicht. Sie weint. Ihre Begleitung, eine ältere Dame (77), hält ihr die Hand und redet auf sie ein. Man könnte meinen, sie sei ihre Großmutter. Als Integrationspatin hat sie die Angeklagte kennen gelernt. Nun kümmert sie sich. Also doch, eine liebenswerte Ersatzomi.
Die Anklage: Massiver Widerstand und vorsätzliche Körperverletzung
Die zahlreichen Besucher sehen die junge Frau wenig später in der Verhandlung auf der Anklagebank sitzen, neben ihr ihr Anwalt, die Ersatzoma in einer der Besucherreihen. Auch der Chef der Ausländerbehörde aus Meschede und eine Mitarbeiterin fügen sich in die Reihen ein. Die Angeklagte, die akzentfrei Deutsch spricht, möchte sich zu dem Vorwurf äußern, am frühen Morgen des 16. Mai Amtsträgern gegenüber massiv Widerstand geleistet zu haben. Dabei soll sie vorsätzlich eine andere Person körperlich misshandelt und geschädigt haben. So lautet jedenfalls die Anklage.
Diese andere Person um die es hier geht, ist eine Verwaltungsfachangestellte der Ausländerbehörde des HSK. Ihr Chef sitzt ihr quasi im Nacken. Neben der Kronzeugin sind noch vier weitere Zeugen geladen: ein Polizeibeamter, ein Arbeitsvermittler des Briloner Jobcenters, der Hausmeister und ein weiterer Verwaltungsfachangestellter der Ausländerbehörde.
Doch der Reihe nach. Worum geht es eigentlich?
In besagter Nacht von Montag auf Dienstag sollten die Eltern der Angeklagten sowie ihre zwei Brüder in den Kosovo abgeschoben werden. Sie selbst wird in Deutschland aufgrund ihrer laufenden Brerufsausbildung geduldet. Da die Mutter psychisch krank ist, hat die Tochter, die eine eigene Wohnung in Brilon hat, in dieser Nacht bei ihrer Familie übernachtet. Ein Härtefallverfahren lief noch – oder eben nicht mehr. Denn die Familie hat über den Beschluss, dass der Härtefallantrag abgelehnt wurde, nie Bescheid bekommen. Somit konnte niemand ahnen, dass sie in einer Nacht- und Nebelaktion abgeschoben werden könnten. „Wir waren erschrocken, geschockt“, so die 20-Jährige. „Weshalb wussten wir nichts davon, dass der Härtefallantrag abgelehnt wurde?“
Die Mutter wollte sich aus dem geöffneten Fenster stürzen, ein Bruder leidet unter Panikattacken. Die Auszubildende schildert unter Tränen, wie sie die Mutter an den Beinen festgehalten habe und ihr dann von der Hauptzeugin Handschellen angelegt worden sind. „Ich habe geweint und geschrien, hatte teilweise einen Blackout.“ Sie habe die Mitarbeiterin der Ausländerbehörde gefragt, ob sie sie getreten habe und ihr gesagt, dass ihr das sehr Leid täte, wenn es so gewesen sein sollte. „Ich wollte mich doch nur von meiner Familie verabschieden können.“
Die Verhandlung wird für einen Augenblick unterbrochen.
„Es waren die Not und die Angst, meine Familie nicht mehr zu sehen.“ Ans Bett fixiert wäre das auch nicht mehr möglich gewesen. Ihre Bitten wurden von zwei Beamten erhört. Wenn sie die Sachen der Mutter packen würde, könne sie sich verabschieden. Vorher müsse jedoch auf das Ordnungsamt gewartet werden, da auch die Angeklagte in ihrer Not mit Selbstmord drohte. „Ich habe niemanden getreten und wenn ich das gemacht habe, tut es mir wahnsinnig leid, das ist nicht meine Natur“ waren die tränenreichen Worte zum Ende der Anhörung. Als erstes hatte die Mitarbeiterin der Ausländerbehörde der Angeklagten aber ihr Handy entwendet, als die Angeklagte einen Bekannten über die Abschiebung telefonisch informieren wollte. Warum dies erfolgte, blieb in der Verhandlung ungeklärt.
Fünf Zeugen berichten
Ein Polizist schildert, dass wohl nicht vorab geklingelt worden sei (Anmerkung der Red.: Die Klingel des Hauses war auch defekt!). Der Hausmeister habe die Türen geöffnet. Er berichtet von Tumult und Widerstand gegen die Amtshandlungen. Die Verwaltungsfachangestellte habe die Angeklagte dann „auf dem Bauch liegend ans Bett fixiert“, mit Handschellen. Die Angeklagte habe – in ihrem mindestens halbstündigen fixierten Zustand – auch nach den beiden Polizisten getreten, da sie sich aus dem Bett befreien wollte. Doch die Tritte seien nicht erfolgreich gewesen und wären auch wohl nicht schlimm gewesen, wenn die beiden Kollegen getroffen worden wären. Er habe sich mit seinem Kollegen um den Bruder gekümmert, die Mitarbeiterin der Ausländerbehörde um die Angeklagte. Von einer Verletzung habe er vor Ort nichts mitbekommen. Aber er habe das später von dem Mitarbeiter des Ausländeramtes erzählt bekommen (Anmerkung: Dieser saß später neben der Hauptzeugin in der ersten Besucherreihe).
Die Belastung ist für alle Beteiligten gleich, wenn es „nach Hause“ geht
Die 45-jährige Hauptzeugin und Strafantragstellerin aus Soest ist als nächstes an der Reihe. Im Gegensatz zur Angeklagten sagt sie aus, dass sie selbst die Mutter an den Füßen festgehalten habe. Dabei sei sie von der Angeklagten zur Seite gestoßen worden, so dass sie gegen eine Wand andockte und sich dabei Verletzungen zuzog. Sie habe den Kollegen geholfen, der jungen Frau Handschellen anzulegen. Die Angeklagte habe wie wild um sich geschlagen und sie an der linken Schulter getroffen, was zu einer Prellung führte. Ob es ein Schlag oder Tritt gewesen sei, wisse sie nicht mehr. Zumindest war sie 14 Tage krankgeschrieben. Richter Härtel fragt nach. „Ja, die Angeklagte hat sich direkt entschuldigt.“ Hinsichtlich der Schwere der Verletzung sagt sie aus: „Ja, es tat weh, war blau, ich war eingeschränkt in der Mobilität.“ Sie sei am selben Tag noch arbeiten gewesen. Am folgenden Tag sei sie dann ins Krankenhaus gegangen. Dass sie sich aber erst eine Woche danach am 22.05.2017 krankschreiben lassen habe, konnte sie nicht begründen. Sie habe auch ein oder zwei Tage Urlaub in der Woche gehabt, sie könne sich nicht mehr ganz genau erinnern.
In wie weit der Prozess emotional war? „Die Belastung ist für alle Beteiligten gleich, wenn es nach Hause geht.“
Arbeitsvermittler im Verfahren beteiligt – Er sieht keine Suizidgefahr
Als nächster Zeuge tritt ein Mitarbeiter des Ordnungsamtes der Stadt Brilon auf. Der 62-Jährige ist Arbeitsvermittler und hatte in besagter Nacht Dienst. Zum Vorgang konnte er selbst nichts sagen. Man habe ihn alarmiert, weil man vermutet hat, dass die Angeklagte suizidgefährdet sein könnte. Er sah aber nach einem Gespräch mit der Angeklagten keine Gefahr.
Hausmeister: Geklingelt wurde nicht
Auch der 54-jährige Hausmeister kann nicht viel erzählen. Er habe die Wohnung aufgeschlossen und die Küche wegen potentieller Gefahren abgeschlossen. Geklingelt habe niemand vorab.
Ein Tumult im ganzen Raum
Anders sieht es ein Verwaltungsfachangestellter des Hochsauerlandkreises, der den nächtlichen Einsatz leitete. Der Dreißigjährige meint, man habe geklingelt, dann aber auch sofort aufgeschlossen. Die Bewohner hätten versucht zu fliehen, die Beamten hätten versucht diese festzuhalten und die Angeklagte habe versucht, letztere davon abzuhalten. Es habe ein Tumult im ganzen Raum geherrscht. Die Hauptzeugin sei an der Schulter verletzt worden, was er aber selbst nicht gesehen habe. „Nicht jeder konnte alles überblicken“, sagt er. Er habe die Abschiebung als emotional empfunden.
Verfahren eingestellt
Richter Härtel führt ein schnelles Ende herbei. „Wer weiß, wie man selbst drauf ist, in einer derartigen Situation.“ Das Verfahren wird gegen ein kleines Schmerzensgeld von 200 Euro eingestellt. Es handele sich um eine Ausnahmesituation, wenn plötzlich sechs bis sieben Menschen nachts vor der Tür stehen.
Auch der Ersatzoma Lilo Waßmann fällt ein Stein vom Herzen. Sie erzählt, dass sie ihrer Wunschenkelin im Vorfeld gesagt habe: „Es ist besser, das Unrecht zu ertragen, als ein Unrecht zu tun.“ So manch einer der Prozessbeteiligten sollte sich über diesen Satz vielleicht einmal Gedanken machen.