Breites Spektrum unterschiedlicher Positionen und kritischer Stimmen zum Gesundheitssystem
– Thema Online-Apotheken führte bei Auftaktveranstaltung zur Reihe „Hochsauerlandgespräche“ zum Aufruhr –
„1.000 Ärzte heute bedeuten 1.350 bis 1.500 Ärzte morgen – Der Mehrbedarf geht schneller, als die Zunahme des Fachpersonals“, schilderte Brilons Bürgermeister Dr. Christof Bartsch auf der Auftaktveranstaltung der SPD zum Thema: „Herausforderungen der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum – Wie kann die Gesundheitsversorgung in Zeiten des demografischen Wandels sichergestellt werden?“ Geladen hatte die Friedrich-Ebert-Stiftung (FES) in Zusammenarbeit mit der SPD im HSK am Mittwochabend Vertreter aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung ins Bestwiger Rathaus. Dirk Wiese (MdB) moderierte.
Das Thema Gesundheitsversorgung ist in Brilon bereits seit 2016 ein Schwerpunktthema. Schon heute müssen die Patienten oft weite Strecken fahren. „Das schafft Unmut“, so Dr. Bartsch (SPD). Der Bürger erwartet eine Haus- und Fachärzteschaft, die den Bedarf deckt.
(v.l.n.r.: Sohel Ahmed, Landesbüro NRW der Friedrich-Ebert-Stiftung (Rednerpult); Dr. med. Hans-Heiner Decker, Leiter der Bezirksstelle Arnsberg der Kassenärztlichen Vereinigung Westfalen-Lippe (KVWL); Dipl.-Kaufm. Werner Kemper, Sprecher der Geschäftsführung des Klinikums Arnsberg; Dirk Wiese MdB, Parlamentarischer Staatssekretär; Dr. Christof Bartsch, Bürgermeister der Stadt Brilon; Frederik Ley, Vorsitzender Regionalleitung DB Regio Bus NRW; Max Müller, Chief Strategy Officer, DocMorris)
Problematik
Der demografische Wandel und die Ärzteknappheit lassen eine flächendeckende Gesundheitsversorgung der Zukunft insbesondere in ländlichen Regionen wie dem HSK in einem besorgniserregenden Licht erscheinen. Denn:
• Die Zahl der über 65-jährigen Patienten wird in den nächsten zehn Jahren im HSK um 20.000 steigen und demzufolge werden weniger Ärzte auf einen komplexeren Bedarf treffen.
• Etwa 2/3 der Ärzte im HSK sind über 60 Jahre alt.
• Die Finanzsituation von Bund und Ländern führte im Jahr 2004 zu Fallpauschalen, sprich einer Vergütung von medizinischen Leistungen pro Behandlungsfall. Das bedeutet, dass Krankenhäuser bestimmte Mindestmengen erbringen müssen, um einen Bereich aufrechterhalten zu können.
• Ärzte und Ärztinnen bevorzugen nicht unbedingt die ländlichen Regionen.
• Im Ärzte- und Apothekerberuf ist eine zunehmende Feminisierung festzustellen. Doch nur wenige Ärztinnen und Apothekerinnen sind bereit, eine Praxis zu übernehmen oder in Zeiten der Familienplanung voll zu arbeiten. Der Frauenanteil bei der Ärzteschaft beträgt über 70 Prozent, bei der Apothekerschaft über 90 Prozent.
Personelle als auch ökonomische Herausforderungen stehen an, ein gewaltiger Strukturwandel steht bevor. Da sind die Politik und neue Konzepte gefragt, um eine ausreichende Gesundheitsversorgung aufrechtzuerhalten.
Bei der Auftaktveranstaltung zur Reihe „Hochsauerlandgespräche“ stand die Frage im Raum: „Herausforderungen der Gesundheitsversorgung im ländlichen Raum – Wie kann die Gesundheitsversorgung in Zeiten des demografischen Wandels sichergestellt werden?“
Auf der Suche nach Lösungen – Meinungen und Vorschläge der Experten
Dipl.-Kaufm. Werner Kemper, Sprecher der Geschäftsführung, Klinikum Arnsberg, sieht die ökonomische Herausforderung in den Strukturqualitäten. Denn das Wichtigste seien qualifizierte Mitarbeiter, Personen, mit denen diese Leistung überhaupt erst erbracht werden könne.
Dr. med. Hans-Heiner Decker, Kassenärztliche Vereinigung Westfalen-Lippe, Leiter der Bezirksstelle Arnsberg, sieht eine mögliche Lösung in Kooperationen zwischen Hausärzten, Fachärzten und Krankenhäusern.
Frederik Ley, Vorsitzender Regionalleitung DB Regio Bus NRW, stellte den Medibus vor. Dieser integriert eine Vollausstattung für einen Hausarzt und moderne IT. Ein möglicher Mosaikstein, um das Problem im ländlichen Raum zu lösen.
Max Müller, Chief Strategy Officer der Versandapothekenkette DocMorris, ist überzeugt: Anstelle einer dauerhaften Konfrontation sollten Online und Stationär miteinander kooperieren. Denn wir sollten uns die Frage stellen: „Wie geht es uns morgen?“
Dr. Christof Bartsch, Bürgermeister der Stadt Brilon, sieht die Lösung in Medizinischen Versorgungszentren (MVZ) oder in einem Gesundheitshaus. Er argumentierte, weshalb stationäre Standorte – im Vergleich zu Online-Standorten – notwendig sind.
Diskussionen mit den Podiumsmitgliedern ufern aus
Nach den Vorschlägen und unterschiedlichen Positionen aus Politik, Wirtschaft und Verwaltung nutzten viele Gäste die Chance, mit den Podiumsmitgliedern zu diskutieren bzw. kritisch zu den Vorschlägen Stellung zu beziehen. Das führte zu teilweise turbulenten verbalen Auseinandersetzungen im Saal.
Nach dem Statement von Max Müller ging ein Raunen und Murren der Apothekerschaft durch den Saal. Großer Applaus für die Rede von Dr. Bartsch.
Andreas Vogd, Apotheker aus Schmallenberg, präsentierte die Apothekerschaft vor Ort und beschrieb den Ist-Zustand im HSK: „73 Apotheker bei 264 Tsd. Einwohnern haben 1442 Notdienste im Jahr, stellen ca. 50 Tsd. Rezepturen und 25 Tsd. Betäubungsmittelrezepte für Patienten mit starken Beschwerden im Jahr aus.“ Diese Leistungen seien Online-Apotheken vorenthalten. „Diese Leistungen erbringen wir seit Jahrzehnten, an Feiertagen wie Weihnachten oder Neujahr.“ Die Berufsstruktur in Fläche und Kreis würde auch bei der Apothekerschaft alterslastig. 90 % der Mitarbeiter seien Frauen, die Teilzeitarbeit liege ganz weit vorne.
Online-Apotheken niederschwellig – ungleiche Standortfaktoren
Vogd prangerte die Niederschwelligkeit der Online-Apotheken an. Sie seien niederschwellig eingestellt auf Gespräche. „Wir sind immer schneller!“ sagte er. „Innerhalb von 4 bis 5 Stunden können wir alles bekommen, was wir nicht schon haben.“ Er kritisierte zudem die ungleichen Standortfaktoren: „Online-Apotheken dürfen Rabatte und Boni verteilen, hiesige Apotheken nicht. Das führt zu einer Wettbewerbsverzerrung auf hohem europäischem Niveau. Wir haben nicht die gleichen Waffen. Das ist ein Skandal!“ Vogd appellierte an die Politik: Die Bevölkerung bekäme Rabatte, die der Krankenkasse entzogen würden, also der Solidargemeinschaft. Hinzu käme, dass die Versandapotheken den Aktionären verpflichtet seien. Wenn die Regeln so bleiben würden, bekämen die Vor-Ort-Apotheken ein großes Problem. In Anbetracht der viel höheren (personalintensiven) Kosten: „Geben Sie uns die gleichen Möglichkeiten. Dann haben wir einen fairen Wettbewerb vor Ort.“
Müller geht es darum, „Konzepte für die Zukunft zu diskutieren, nicht um Streit oder eine Debatte, wo es ums Geld geht.“ Dass der Bonus der Sozialversicherung entzogen werde, stimme nicht. „Wir geben das Geld zurück“, argumentierte der Vorstandsvorsitzende dagegen. Er verwies auf ein EU Gerichtsurteil: „Sie haben uns verklagt und die Klage verloren – nachdem wir ein Jahr lang diskutiert haben.“ Es seien Vorschläge gekommen, z. B. die Vergütung für Nacht- und Notdienste zu verdoppeln oder der Vorschlag der Strukturfonds. Alle Vorschläge seien von der Apothekerschaft abgelehnt worden. Müller appellierte weiterhin an eine Zusammenarbeit, verstehe aber auch Dr. Bartsch. Er nannte das Beispiel eines großen Klinikbetreibers, der private Klinikbetreiber aufgekauft hat. „Doch wir zahlen Umsatzsteuer und Sozialversicherungsbeiträge. Die Neiddebatte wird die Versorgung keinen Schritt weiter führen.“ Müller steht für Kooperationen: Kooperationen zwischen Online- und Offlineapotheke, Kooperationen zwischen Ärzten und für gleiche Wettbewerbsbedingungen, um die Versorgung sicherzustellen.
„Sponsort DocMorris die SPD?“
Rückfrage von dem Vizepräsidenten der Apothekerkammer Münster: „Sponsort DocMorris die SPD?“ Umsatzsteuer und Sozialversicherungsbeiträge gingen nicht an Deutschland, sondern an Holland und eine Insel. Jeder hiesige Apotheker müsste seine Approbation abgeben.
Derartige Äußerungen ließ sich der Parlamentarische Staatssekretär nicht bieten. Sichtlich erbost kommentierte Dirk Wiese: „Der Vorwurf ist eine Frechheit. Es geht um kritische Geister und einen gesunden Diskurs; um Argumente wie bei Herrn Vogd.“ So müsse ein Diskurs geführt werden.
Dann ging ein Apotheker aus Medebach auf Müller los: „Versandapotheken sind Lieferer. Es geht um Dumpingpreisbelieferung. Die Versandapotheken arbeiten mit Billigpersonal und wollen das Geld der Krankenkassen.“ Seine Sorge: Dass die Online-Apotheken mit Krankenhäusern kooperieren. Er fragte nach Zahlen.
Müller wurde es dann mittlerweile auch zu bunt: „Sie haben keine Ideen. Sie versuchen einen großen Kübel Mist auszuschütten, um zu verschleiern, dass Sie die Prozesse verlieren.“ Dabei ginge es nur um das Thema Zukunft. Müller rechtfertigte sich und berichtet von zwischen 60 und 100 Rezepten pro PTA und Apotheke pro Tag. „Bei jedem neuen Rezept werden die Dosierungen geändert.“ Der regionale und soziale Kontakt sei nicht ganz Deutschland. „Man kann Dinge heutzutage dokumentieren.“ Es ginge schließlich um eine dauerhaft sichere und hochwertige Versorgung. „Ich lasse es nicht zu, dass Sie 600 Kollegen abqualifizieren. Sie wissen gar nicht, wie wir arbeiten.“ Er argumentierte gegen den Vorwurf, Sozialabgaben und Steuern nicht in Deutschland abzuführen.
Die Frage, ob Online-Apotheken mit Krankenhäusern kooperieren, wurde nicht beantwortet.
Weitere Wortmeldungen
„Es interessiert anscheinend nicht mehr, ob der Patient gesund wird. Bei einer vorgegebenen mittleren Verweildauer muss der Patient raus, weil sonst die Finanzierung nicht mehr gesichert ist.“ Der Teilnehmer appellierte für mehr Geld für das Gesundheitssystem. Das Gesundheitssystem sei unterfinanziert. So könne z. B. der Solidaritätsbeitrag für die Gesundheit aufgewendet werden und schon sei das Problem gelöst. Im Vergleich zu Deutschland, wo eine Pflegekraft auf zwölf Patienten kommt, seien es in den Niederlanden nur sechs Patienten pro Pflegekraft.
Eine Wortmeldung kam zur Frage „Präventologie“: „Wäre es nicht möglich, Präventologie als Fachbereich zu schaffen? Also Vorbeugung. Antwort von Kemper: „Eine Vielzahl der Ärzte gibt bereits Hinweise, Kurse werden angeboten. Präventologie ist bereits ein fester Bestandteil der ärztlichen Arbeit.“
Eine Anregung eines Besuchers an Dirk Wiese: „Sorgen Sie dafür, dass 20 bis 25 Prozent mehr Plätze für Medizin angeboten werden.“
Auch eine Ärztin meldete sich. Sie betrachtet die Entwicklung des Ärztemangels auf dem Land als grenzwertig. Warum bei über 70 Prozent Frauenanteil bei der Ärzteschaft keine Frau vorne sitzt, fragte sie. Gute Frage, nächste Frage. Doch die Zeit war bereits um bzw. schon überschritten.
Fortsetzung mit einigen Expertenaussagen folgt !