Der lange Weg zur Wahrheit
Aktenzeichen Wahnsinn
Ermittler wollten einem grünen Beamten Korruption nachweisen – sie zerstörten seine Existenz und diskreditierten den Staat
Akten, meterweise Akten. Insgesamt 990 Aktenordner hat der Parlamentarische Untersuchungsausschuss (PUA) des Düsseldorfer Landtages zusammengetragen, um einen harmlos klingenden Vorgang zu überprüfen. Das Gremium beschäftigt sich mit dem Zustandekommen von “Vorwürfen und Anschuldigungen” gegen den ehemaligen Abteilungsleiter im nordrhein-westfälischen Umweltministerium, Harald Friedrich. Die Akten tragen unterschiedliche Aufschriften, aber eigentlich braucht es nur ein Wort mit acht Buchstaben, um die Schriftstücke zu erklären: Wahnsinn.
Der Wahnsinn ist grau. Er sitzt in Behörden, in denen offenbar auch rasende Verfolger ihren Dienst tun, und an den Schalthebeln der Macht. Gegen Friedrich sei eine “staatliche Treibjagd” betrieben worden, klagt Johannes Remmel, parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen. Der Ausschuss tagte erstmals Anfang der Woche, und an diesem Freitag wird Friedrich als Zeuge gehört werden.
Im Mai vergangenen Jahres wurde sein Konterfei bei einer Einsatzbesprechung des Düsseldorfer Landeskriminalamtes (LKA) im Rahmen einer PowerPoint-Präsentation gezeigt: weißer Bart, heruntergezogene Mundwinkel. Sah so der Feind aus? Friedrich sei der einzige “grüne” Abteilungsleiter im Umweltministerium gewesen, betonte ein Kriminalhauptkommissar. Bei dem Verdächtigen handele es sich um die “rechte Hand” der früheren grünen NRW-Umweltministerin Bärbel Höhn. Die Sache sei “politisch brisant”.
Tags darauf fand dann eine Großrazzia in drei Bundesländern statt. 275 Polizeibeamte und fünf Staatsanwälte rückten aus. Der heute 57 Jahre alte Friedrich wurde festgenommen und kam erst nach 22 Tagen Haft frei. Gegen weitere zwölf Beschuldigte wurden Ermittlungen aufgenommen. Als gehe es gegen die Mafia, versteckten LKA-Beamte Peilsender unter Autos von Verdächtigen, hörten zahlreiche Telefonanschlüsse ab und ließen Firmenkonten sperren.
Angeblich war Friedrich der Kopf einer Bande von Korrupten gewesen, denen vorgeworfen wurde, das Land betrogen zu haben. Angeblich hatten sie zweckgebundene Mittel aus der Abwasserabgabe zweckwidrig verwendet: “Gemeinsames Ziel der Beschuldigten” sei es gewesen, Aufträge für Universitätsinstitute und Privatfirmen zu generieren, stand im Haftbefehl Friedrich. Ein Schaden in Höhe von mindestens 4,3 Millionen Euro sei entstanden, teilte die zuständige Wuppertaler Staatsanwaltschaft mit. Jetzt stellt sich heraus, dass der Schaden weit höher ist. Aber anders, als die Strafverfolger meinten. Mittlerweile wurden von der Düsseldorfer Generalstaatsanwaltschaft sämtliche Verfahrenskomplexe eingestellt, die zur Razzia und zu Telefonüberwachungen mit 2500 abgehörten Telefonaten geführt hatten. Die Verdächtigungen reichen nicht für einen hinreichenden Tatverdacht. Beschädigt ist die Reputation von Ermittlern, erschüttert wurde das Vertrauen in die Ministerialbürokratie. Eine durch die Ermittlungen betroffene Firma wurde wirtschaftlich ruiniert. Die bürgerliche Existenz eines ehemaligen Staatsdieners wurde zerstört, und es gibt den Verdacht, dass politische Gründe bei der Verfolgung des Harald F. eine gewichtige Rolle spielten: ein GAU des Staates.
Der Mann, dem all die Verfolgung galt, war keine graue Maus auf den Mäusepfaden der Ministerialräte gewesen. Ein menschlich schwieriger Typ, ein Workaholic, der sogar am Wochenende nach 23 Uhr noch Leute in Dienstangelegenheiten anrief. Ein Überzeugungstäter in Sachen Umwelt. Er hatte sich mit den Herren einflussreicher Müll-Konzerne angelegt, aber er hielt sich nicht immer ganz genau an Vorschriften und verstand es, sich im Wortsinn Feinde zu machen. In dem zuvor von Grünen regierten Ministerium war er der letzte grüne Abteilungsleiter. Er wurde im Sommer 2006 fristlos entlassen. Die Gründe stellten sich, mehr oder weniger, als Vorwand heraus. Er bekam eine Ehrenerklärung und 75 000 Euro Abfindung. Fast gleichzeitig erstattete ein Staatssekretär von CDU-Umweltminister Eckhard Uhlenberg Strafanzeige gegen Friedrich wegen angeblichen Geheimnisverrats, angeblicher Vorteilsannahme, angeblicher Bestechung, und ein anderer Ministerialbeamter schickte an das LKA E-Mails mit Gerüchten und Klatschgeschichten enttäuschter Mitarbeiter: Angeblich hatte Friedrich in Frankreich auf Kosten eines Unternehmens eine Woche Urlaub gemacht, angeblich hatte ihm ein Gutachterbüro ein Auto für sechs Wochen kostenlos zur Verfügung gestellt. Die beim LKA eingerichtete Sonderkommission “EK Stuhl” nahm alle Hinweise begierig auf.
Als die LKA-Kommission ihren ersten, Hunderte Seiten dicken Ermittlungs- und Sachstandsbericht erstellt hatte, notierte ein fassungsloser LKA-Referatsleiter handschriftlich: “Wo finde ich eigentlich die ursprünglichen Tatvorwürfe?” Er kritisierte “Mängel an sorgfältiger kriminalistischer Beweisführung und Argumentation”. Die Hauptbelastungszeugin aus dem Ministerium, die sich mit Friedrich heillos zerstritten hatte, habe offenbar “Rachegelüste”. Ob sie die “einzige Quelle” sei, ob sie vielleicht sogar die “Ermittlungen geführt” habe? Der Referatsleiter hatte bei der Lektüre “teilweise den Eindruck, dass bestimmte gewünschte Wahrnehmungen durch tolldreiste Spekulationen erzwungen werden”. So ein vernichtendes Resümee schreibt normalerweise nicht mal ein Verteidiger. Im LKA haben sich Kollegen über die Frage, wie dieses Verfahren behandelt wurde, heillos zerstritten. Aber die Maschine lief auch deshalb weiter, weil die Atmosphäre so aufgeheizt war. Und manchmal lässt heutzutage ein bloßer Korruptionsverdacht alle Dämme brechen.
Inzwischen hat die Düsseldorfer Generalstaatsanwaltschaft die Ermittler durch eine Vielzahl von Weisungen einigermaßen gestoppt, aber der Fall mit dem Aktenzeichen 85 Js/07, der auf 11 700 Seiten angewachsen ist, ist noch nicht ausgestanden. Die “EK Stuhl” und die Wuppertaler Strafverfolger werfen Friedrich noch vor, er habe sich bei etlichen Treffen mit Auftraggebern für insgesamt 1000 Euro bewirten lassen, auch habe er vertrauliche Unterlagen des Ministeriums zu Hause aufbewahrt. Angeblich sei der Landeskasse durch Manipulationen bei einer Auftragsvergabe ein Schaden in Höhe von etwa 73 000 Euro entstanden. “Wenn wir so lange und intensiv ermitteln, dann sind wir auch sicher, dass wir am Ende zu einer Anklage kommen werden”, sagt ein Wuppertaler Oberstaatsanwalt. “Alles andere wäre die Verfolgung Unschuldiger.”
Von Hans Leyendecker und Johannes Nitschmann
aus Süddeutsche Zeitung vom 30.10.2009